Tagung: Rekonstruktion des Nationalmythos? Frankreich, Deutschland und die Ukraine im Vergleich

Nach zwei blutigen Weltkriegen und dem Nationalsozialismus wurden die meisten einheitlichen und essentialistischen Nationalmythen entzaubert. Insbesondere in der heutigen „postnationalen Konstellation“ (Habermas) der Globalisierung scheint der Bezug auf die Nation als gesellschaftlicher Kitt ausgedient zu haben. Zur selben Zeit jedoch sind Versuche von Seiten ganz unterschiedlicher staatlicher sowie zivilgesellschaftlicher Akteure zu beobachten, einen neuen allgemeingültigen „Mono­mythos“ (Marquard) zu etablieren. Die von Yves Bizeul und dem Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der Universität Rostock am 08.10.2011 ausgerichtete Tagung setzte sich mit diesen Rekonstruktionsversuchen unter den Bedingungen spätmoderner Mediengesellschaften in vergleichender Perspektive auseinander: Worin unterscheiden sich diese Mythenrekonstruktionen von den früheren Nationalmythen der Moderne? Von welchen Akteuren gehen diese Rekonstruktionen aus? Welche Ideologien und Überzeugungen liegen ihnen zu Grunde? Welche Ressourcen und Medien werden im Kampf um die Deutungsmacht bezüglich der nationalen Geschichte eingesetzt? Und nicht zuletzt: Auf welche Widerstände stoßen diese Bemühungen?

Datum: 08.10.2011, 9-19 Uhr Ort: Internationales Begegnungszentrum Rostock e.V., Bergstraße 7a, 18057 Rostock

 

In seinem Eröffnungsbeitrag legte Yves Bizeul die Bedeutung politischer Mythen für die „Selbsterfindung der Nation“ dar. Sie begründen narrativ, meist auch von Historikern verbreitet, die grundlegenden Parameter der nationalen Identität: in Frankreich in der Tradition des Republikanismus, in Deutschland zunächst als „Kulturnation“, nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine eher republikanische Lesart ergänzt, in der Ukraine als „untrennbare Einheit von Volk und Ethnie“, an der auch der Kommunismus nicht viel geändert hat. Im Hinblick auf spätmoderne Rekonstruktionsversuche stellte Bizeul die These auf, dass diese in Frankreich und der Ukraine auf unterschiedliche Weise eher von staatlichen Institutionen ausgingen, wohingegen in Deutschland vor allem zivilgesellschaftliche Akteure ausschlaggebend wären. Nicolas Offenstadt (Paris) analysierte die inszenierte Identitätsdebatte in Frankreich und den Plan eines „Maison pour l'histoire de France“ als Neudeutungen des „Nationalromans“ durch den Präsidenten Sarkozy. Diese stütze sich auf eine Nationalidentität, die zwischen einem guten „Wir“ und einem vagen „Sie“ unterscheidet, sowie in geringerem Maße auf Multikulturalismus und würde die republikanische Tradition in Frage stellen. Offenstadt spricht von der „l'histoire bling-bling“ Sarkozys: einer bricolage von bekannten historischen Figuren und Ereignissen, die aus ihren ursprünglichen Kontexten und Bedeutungen weitgehend gelöst werden. Mit diesen disponiblen Elementen versuche Sarkozy eine einheitliche Narration der Nation herzustellen. Manuel Becker (Bonn) plädierte für eine scharfe Trennung zwischen einem republikanisch gefärbtem Patriotismus im Sinne eines gemeinwohlorientierten Handelns, das ohne die Abwertung des Anderen auskommt, einerseits und einem aggressiven, letztlich unpolitischen Nationalismus andererseits. Mit dieser Unterscheidung ging sein Beitrag den Bedingungen eines solchen Patriotismus in der Berliner Republik nach. Die Fußballweltmeisterschaft 2006 sei eine „katalysierende Projektionsfläche für ein im Wandel befindliches Deutschlandbild“ gewesen, dessen tiefere Ursachen nicht nur in der Wiedervereinigung lägen, sondern auch in der Neuausrichtung der Geschichtspolitik, die nur unter der Rot-Grünen-Regierung möglich gewesen sei, sowie schließlich im demographischen Wandel. Die vielzitierte Idee eines „deutschen Sonderwegs“, so die These von Matthias Wächter (Nizza), erfüllte in der Bundesrepublik vor 1990 die Funktion eines Sinn und Identität stiftenden politischen Mythos, der die Ursachen für die Teilung Deutschlands erklärte sowie die Westbindung und die europäische Integration begründete. Mit der Wiedervereinigung sei diese Erzählung der nationalen Geschichte obsolet geworden. Heinrich August Winklers „Der lange Weg nach Westen“ stelle den Versuch einer zeitgemäßen Mythosrekonstruktion dar, der das wiedervereinte Deutschland als freiheitliche westliche Demokratie zu legitimieren suche. Da Matthias Wächter aus gesundheitlichen Gründen leider nicht an der Tagung teilnehmen konnte, wurde sein Manuskript verlesen.

Hans-Ulrich Thamer (Münster) widmete sich in seinem Beitrag den Debatten über die Einrichtung des Deutschen Historischen Museums (DHM) und vor allem der Dauer-ausstellung. Entgegen den ersten Plänen, aber auch entgegen den Befürchtungen so mancher Kritiker, entwerfe das DHM keine nationale Meistererzählung, sondern spiegele eher eine pluralistische Deutungskultur zu Beginn des 21. Jahrhunderts wider. Allerdings setze die Dauerausstellung im Wesentlichen auf die Kraft der Exponate und zudem dominiert letzten Endes wieder eine chronologische Darstellungsweise. So vermeide es die Ausstellung einerseits eine einheitliche, verbindliche Deutung vorzuschreiben, anderseits jedoch werde sie als „Selbstdarstellung der frühen Berliner Republik“ dem Anspruch an Analyse und Selbstreflexivität nicht gerecht. Gegen eine einseitig konstruktivistische Perspektive wandte Joanna Nowicki (Cergy-Pontoise) in ihrem Vortrag ein, dass dadurch die affektive Dimension des nationalen Mythos letztlich aus dem Blick zu geraten drohe. Die Vorstellung der Kulturnation sei in Ostmitteleuropa eng verknüpft mit dem Trauma des „Bewusstseins von der Sterblichkeit der Zivilisation“, wie Nowicki anhand von Beispielen aus der Literatur darlegte. Diese tief im Imaginären eingeschriebene Vorstellung einer „Gemeinschaft der Untergegangenen“ verschwinde nicht einfach, indem sie als Konstrukt ausgewiesen werde. Hierin unterscheide sich Ostmitteleuropa vom Westen, dessen Kultur gerade auf dem Vergessen dieser Sterblichkeit beruhe und eher zu universalistisch konnotierten Mythen neige. Die beiden letzten Vorträge beschäftigten sich mit Geschichtspolitik und kollektivem Gedächtnis in der postsowjetischen Ukraine. Obgleich sich mit der Deutung des Zweiten Weltkriegs als „Großer Vaterländischer Krieg“ einerseits und mit der Ehrung ukrainischer nationalistischer Bewegungen andererseits scheinbar zwei unvereinbare Erinnerungskulturen manifestieren würden, widersprach Wilfried Jilge (Berlin) der Spaltung des kollektiven Gedächtnisses in Ost- und Westukraine. Vielmehr sei differenzierter von „fünf Makro-Regionen der Erinnerung“ auszugehen. Gerade innerhalb der ukrainischen Eliten sei zudem ein eher funktionalistisches Verhältnis zur nationalen Geschichte zu konstatieren. Per Anders Rudling (Greifswald) zeichnete Versuche nach, die große Hungersnot von 1932/1933 unter dem Schlagwort Holodomor als nationalen Mythos zu etablieren. Der Opfermythos, der bewusst in Analogie zum Holocaust konstruiert wurde, ging in den 1980ern von Teilen der ukrainischen Diaspora aus, fand Eingang in die Geschichtsbücher der postsowjetischen Ukraine und wurde aggressiv auch vom ehemaligen Präsidenten Juschtschenko vertreten. Die Dekonstruktion des sowjetischen Geschichtsbildes im Zeichen des Holodomor hat zugleich eine bedenkliche Rehabilitation von Nazi-Kollaborateuren und ukrainischen Faschisten bewirkt, von der heute nicht zuletzt Rechtsradikale wie die Svoboda-Partei profitieren.

Tagungsprogramm

9:00 Grußworte des Rektors der Universität Rostock der Dekanin der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät

9:15 Einführung in das Thema der Tagung Yves Bizeul (Rostock)

9:30 L’identité nationale comme projet politique. L’exemple de la „Maison pour l’histoire de France“ Nicolas Offenstadt (Paris)

10:15 Diskussion

10:45 Kaffeepause

11: 15 Les résistances de la société civile aux tentatives de reconstruction du mythe national Olivier Le Trocquer (Paris)

11:45 Patriotismus und nationale Identität in der „Berliner Republik“ Manuel Becker (Bonn)

12:15 Diskussion

12:45 Mittagspause

15:00 „Der lange Weg nach Westen“. Beitrag der gegenwärtigen deutschen Historiker zur Konstruktion eines demokratischen Nationalmythos Matthias Waechter (Nizza)

15:30 Das „Deutsche Historische Museum“ Hans-Ulrich Thamer (Münster)

16:00 Diskussion

16:30 Kaffeepause

17:00 La pérennité des mythes nationaux dans les cultures de l’Europe médiane Joanna Nowicki (Cergy-Pontoise)

17:30 Geschichtspolitik und Nationalidentität in der Ukraine Wilfried Jilge (Leipzig)

18:00 „Holodomor“ und Nationalsozialismus im kollektiven Gedächtnis der Ukraine Per Anders Rudling (Greifswald)

18:30 Diskussion

19:00 Ende der Tagung

 

Französische Vorträge mit Simultanübersetzung