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Nachruf auf Frau Dr. Conchita Hübner-Oberndörfer

Frau Dr. Conchita Hübner-Oberndörfer, geboren 1953 in Dresden, studierte an der Universität Leipzig Geschichtswissenschaft, erwarb 1976 ihr Diplom und promovierte 1984. Ab 1977 arbeitete sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Rostock. Nach der Wende trug sie ab 1992 entscheidend zur Gründung und zum Aufbau der neuen Politikwissenschaft in Rostock bei, dies innerhalb der ebenfalls neu gegründeten Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät. 2019 in Pension gegangen, blieb sie weiterhin in der Frauenförderung und -forschung in Rostock und Schwerin engagiert. Seit 1997 war Frau Hübner-Oberndörfer im Trägerverein des politischen Fortbildungsinstituts Wiesneck bei Freiburg an herausragender Stelle tätig. Am 8. September 2022 ist sie nach mehrjähriger, schwerer Krankheit gestorben.

Dies hier ist nur das dürre, chronologische Exoskelett eines weit größeren, inneren Lebens. Frau Hübner-Oberndörfer konnte und musste in den letzten drei Jahrzehnten gewaltige Zäsuren und Transformationen durchlaufen und erleben. Nach dem unerwarteten Tod ihres Mannes und dem Kollaps eines Regimes, das weit mehr war als eine politische (Zwangs-)Ordnung, folgten für Frau Hübner-Oberndörfer drei Jahrzehnte des beständigen Um-, Auf-, aber auch Abbaus von Institutionen, Lebens- und Lehrinhalten ebenso wie Ordnungsmodellen.

Ich habe Frau Hübner, noch in Schwarz gekleidet, 1993 in einem damals noch für mich fremden Land kennengelernt, in dem fast symbolisch angegrauten Barockpalais am Vogelsang, in dem einst das „Institut für Marxismus-Leninismus“ untergebracht war. Die Regale waren – bereits oder noch? – geleert und in den umfangreichen und niederen Sofas versanken die neuen Dozenten und Studenten wie in fleischfressenden Pflanzen. Frau Hübner aber bildete den Kernbestand und die Erfolgsgarantie eines bereits angelaufenen demokratischen und wissenschaftlichen Reformprozesses. Was mit dem Generalsatz „Nicht negieren, aber niemals restaurieren“ so leicht gesagt wird, stellt sich im Kleinen, im Alltäglichen und im Psychologischen weit schwieriger dar. DDR, das waren nicht nur die jetzt geleerten Bücherregale, sondern auch die Latenz von Erfahrungen, Bildern, Lernprozessen und Identitätsmustern. Conchita Hübner-Oberndörfer gehörte von Anfang an zu jenen Menschen, die sich weit über den blutleeren Begriff der „Transition“ erhoben, die diese fundamentale Zäsur mit Überzeugung und innerer Ausgewogenheit durchlebt, bewältigt und genutzt haben. Mit Güte und Intelligenz, Verständnis und Prinzipientreue, mit Analyse ohne Selbstüberhebung, mit Erinnerung ohne Sentimentalität. Also kein „Alles verstehen ist alles verzeihen“, im Gegenzug aber auch weder Selbstgerechtigkeit (des Westens) noch Selbstmitleid (des Ostens). Dabei halfen weise Zurückhaltung, rational eingegrenzte Toleranz und auch die Ehe mit dem Mitbegründer der neuen Fakultät, mit Dieter Oberndörfer.

Zu einem Zeitpunkt, an dem die ersten Jahre der Umwälzung, des Umzugs und Neubeginns bereits verstrichen waren, zu einer Zeit also, in der freie Lehre, Forschen und Schreiben möglich gewesen wären, brach das Großprojekt „Bologna-Reform“ über das Institut hinein, mit voller Wucht und einem entsprechenden neuen Rektor. Leider gilt stets: „Der Erfolg, das Ergebnis, hat tausend Väter, die Arbeit, das Risiko, bleiben Waisenkinder“. Während sich manche wegduckten, nahm Frau Hübner-Oberndörfer die Sisyphusarbeit auf. Zwar unterstützt von einer kleinen Koalition der Willigen, aber die Mühe, die Gremienkämpfe und Risiken blieben ihr überlassen. Ihr half ihr gütiger Grundsatz: „Im Leben braucht man Freunde, keine Feinde“. Schließlich ging es um nichts mehr als um das Überleben des neu gegründeten und von ihr so maßgeblich geprägten Instituts. Ohne einen „zertifizierten“, „evaluierten“, „Alleinstellungsmerkmal“-basierten und kernsanierten Bachelor- und Masterstudiengang wäre das Institut hinfällig gewesen. Ein Elfenbeinturm ohne Fundament, aber mit Beletage für Dissertations- und Habilitationsspiele. Nur mit grandioser, mehrjähriger Geduld, mit Sachwissen, Rücksprachen und Verbündeten ließen sich die neuen Studien- und Prüfungsordnungen entwerfen und in Dutzenden von Anhörungen vor immer wieder neuen Instanzen durchbringen. Dabei war besonders delikat das bürokratische Monstrum des ZQS, des „Zentrum für Qualitätssicherung“: „Ich qualifiziere, also bin ich“.

In dem immer engeren Spielraum zwischen betriebswirtschaftlichen Effizienzanforderungen und -methoden einerseits und juristischer Durchsystematisierung von Lehre und Forschung andererseits versuchte Frau Hübner-Oberndörfer ein immer relatives Maximum an Originalität, Autonomie und Flexibilität des Studierens zu retten. Auch diese Leistung wird weit über sie hinaus weiterhin bestehen für junge Menschen, die vielleicht gar nichts davon wissen. Dass sie über dieses Jahrzehnt ihres akademischen Lebens nicht die Lebenslust verlor, dafür sorgte ihr fundamentales wissenschaftliches und politisches Anliegen: ihr Engagement in der Frauenförderung. Auch hier galt, wie so oft, Oscar Wilde: „Kleinigkeiten machen die allergrößten Schwierigkeiten“. Der echte Fortschritt zeigte sich hier im Fortschritt der kleinen Dinge, inkrementalistisch, außerakademisch, in der sozialen Praxis, nicht in der Bedenkenlosigkeit großer oft kulturwissenschaftlicher Theorien. Auf dieser entscheidenden, also lokalen, nicht globalen Bühne hat sich Frau Hübner-Oberndörfer in Rostock und in Schwerin, immer mit Kolleginnen, erfolgreich viele Jahre eingesetzt.

Die Literaturliste ist die Visitenkarte des Gelehrten – sagen diese –, aber nicht weniger wichtig sind die Freunde, die Freunde, die wir haben und die uns bleiben. Visitenkarten mögen – erfolgreich? – auf Unsterblichkeit zielen, die Wissenschaft selbst aber bleibt ein durch und durch gesellschaftliches Ereignis.

In den drei Jahrzehnten ihrer Arbeit hat Frau Hübner-Oberndörfer diese Freunde gewonnen, durch fortwährende Arbeit und stille Disziplin. Mit nie ermüdender Geduld und Einfühlungsvermögen hat sie uns und vor allem die Studenten (lebens-)beratend und lehrend begleitet. Dabei ging diese Beratung immer weit über ihr Hauptgebiet, die Geschichte der Politischen Ideen, hinaus. Über Jahre hat sie immer wieder neue Stöße von Hausarbeiten kritisch gesichtet und kommentiert, stilistisch und theoretisch, an Wochenenden und in den Semesterferien. Sie ist damit einer verlorengegangenen Kunst und selbst auferlegten Pflicht, derjenigen der Betreuung, nachgekommen. Dieser Einsatz, diese Bildungsarbeit ist leider in der voll reformierten und finanziell wie moralisch neoliberalisierten Massenuniversität selten geworden.

Mit der gleichen Geduld, Zurückhaltung und Ausdauer hat Frau Hübner-Oberndörfer die kurz nach ihrer Pensionierung einsetzende schlimme Krankheit ertragen. Eine solche schreckliche Wendung macht immer wieder von neuem ratlos, unterschiedslos alle, die Nicht-, die Weniger- und die Tiefgläubigen. Ganz am Ende kann Erinnerung doch mehr sein als unsere Vernunft und Ratlosigkeit.

 

Was reif in diesen Zeilen steht,

was lächelnd winkt und sinnend fleht,

das soll kein Kind betrüben:

die Einfalt hat es ausgesät,

die Schwermut hat hindurchgeweht,

die Sehnsucht hat‘s getrieben.

O Stern und Blume, Geist und Kleid,

Lieb‘, Leid und Zeit und Ewigkeit!

Clemens Brentano, Eingang

 

 

Jakob Rösel, 18. September 2022


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